„Wer die georgische Pianistin zum ersten Mal in einem Konzert erlebt, der wird nicht nur staunen über die physische Kraft, mit der die mädchenhaft zierliche Person die schwierigsten Brocken des Konzertbetriebs aus den Tasten herauswuchtet. Er wird […] vor allem verblüfft sein über die fast plastische Deutlichkeit, mit der die Pianistin die emotionalen und die intellektuellen Dimensionen der jeweiligen Kompositionen erlebbar macht und miteinander zur Wirkung bringt.“
So schrieb Dr. Gottfried Knapp in der Süddeutschen Zeitung nach einem Klavierabend von Lika Bibileishvili.
Sie wurde in Batumi, Georgien, geboren und erhielt mit vier Jahren ihren ersten Unterricht. Im Alter von 10 Jahren besuchte sie bereits die Klavierklasse von Prof. Medea Shaladze an der georgischen Universität der Künste in Batumi. 2008 zog die Pianistin nach Deutschland und setzte ihr Studium an der Musikhochschule München bei den renommierten Professoren Franz Massinger, Volker Banfield und Antti Siirala fort. 2015 schloss sie das Masterstudium mit Auszeichnung ab, nachdem sie schon zahlreiche internationale Wettbewerbe, wie den Preis des georgischen Ministeriums für Kultur und Kunst, gewonnen hatte. 2016 absolvierte sie ein postgraduales Studium am Mozarteum in Salzburg bei Prof. Peter Lang und besuchte Meisterklassen bei Elisso Virsaladze, Ruvim Ostrovsky und Naum Shtarkman am Staatlichen Tschaikowsky Konservatorium in Moskau. 2020 feierte Lika Bibileishvili ihr Debüt beim Klavierfestival Ruhr mit Werken von Beethoven anlässlich seines 250. Geburtstages. Der Mitschnitt dieses Konzertes wurde unter dem Eigenlabel des Festivals veröffentlicht. Die ebenfalls bei diesem Festival zur Aufführung gebrachten Moments Musicaux, op. 16 von Rachmaninow wurden vom WDR aufgezeichnet. Im gleichen Jahr war Lika Bibileishvili Gast beim Carl-Orff Festival in Andechs und führte zum Abschluss der Altmark Festspiele 2021 das Klavierkonzert Nr. 2 von Schostakowitsch auf. Lika Bibileishvili ist Stipendiatin der von Yehudi Menuhin gegründeten Organisation Live Music Now, die sich als Ziel gesetzt hat, klassische Musik den Menschen näherzubringen, die selbst nicht in Konzerte gehen können (Anm.: z.B. in Seniorenheimen). Ihre Debüt-CD mit Werken von Prokofjew, Bartok, Ravel und Sibelius erschien 2018 beim Label FARAO-Classics
Zum Programm
Frau Bibileishvili eröffnet den Abend mit der Sonate Nr. 12 in F-Dur, KV 332 von Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791), die er vermutlich 1783, entweder in Salzburg oder in Wien, niedergeschrieben hat. Sie erschien im Erstdruck 1784 bei Artaria in Wien als op. 6/3 zusammen mit den Sonaten KV 330 und 331. Innerhalb der achtzehn Sonaten, die Mozart neben zahlreichen kleineren Klavierstücken und sechzehn, uns erhaltenen Variationenwerken für Klaviersolo geschrieben hat, sind die sieben Sonaten KV 309 – 311 und KV 330 – 333 der mittleren Schaffenszeit zuzuordnen. Die erste Gruppe entstand in Mannheim und Paris, bei der zweiten Gruppe können die Entstehungsorte Salzburg oder Wien nicht sicher zugeordnet werden.
Mozart schrieb über einhundert Werke für sein Instrument, das Klavier. Im Gegensatz zu seinen sechsundzwanzig Klavierkonzerten hört man seine Klaviersonaten relativ selten im Konzert.
Der Hauptgrund hierfür ist in der unzulässigen retrospektiven Übertragung ästhetischer Maximen zu sehen, die im 19. Jahrhundert, basierend auf den Werken Beethovens, auf die Werke der Komponisten vor Beethoven ausgedehnt wurden. Es war unzulässig, Beethovens Strenge und Subjektivität in den Sonaten Mozarts und anderer zu suchen, und, ohne Entsprechendes zu finden, sie deshalb als weniger ‘wertvoll’ zu betrachten.
Mozart schrieb die meisten seiner Klaviersonaten für den eigenen Gebrauch. Ulrich Konrad:„… Sie zeigen, mit welchem Ehrgeiz Mozart als Pianist und Komponist an die Öffentlichkeit treten wollte. Als ausgesprochene Vorspielstücke für ihn selbst, zeigen sie ihn als Kenner und phantasievollen ‘Amalgator’ aller aktuellen Tendenzen der Sonatenkomposition. Mehr noch: Die teils ins Konzertante hineinreichenden spieltechnischen Anforderungen und die Absicht, zumindest gelegentlich die dynamischen Wirkungen des modernen Orchesters auf dem Klavier zu imitieren (die Dürnitz-Sonate, KV 284, mag als Beispiel dienen) stehen für Mozarts Bemühen, die Klaviersonate als Genre auf ein neues künstlerisches Niveau zu heben.“ (*1, S. 732)
Angesichts der Ideenvielfalt im eröffnenden Allegrosatz der Sonate F-Dur, die wir hören, fehlte es nicht an Versuchen, doch eine versteckte Einheit nachzuweisen. Vergeblich. Mozarts unerschöpflicher Ideenreichtum lässt hier auch an ein Capriccio denken, weil „das Capriccio häufig widersprüchliche Ideen kombiniert, als bewußte intellektuelle Herausforderung, ihre Unvereinbarkeit nicht nur neu zu entdecken, sondern auch in immer neuen Versuchen zu deuten.“ (*2, S. 520) Wenn Mozart das beabsichtigt haben sollte, dann ist es ihm zum Leidwesen der Analysten geglückt.
Im Kontrast hierzu das ruhige B-Dur-Adagio, ein Sonatensatz ohne Durchführung, der durchgehend als Melodie mit Begleitung konzipiert ist. Im Erstdruck weist diese schwärmerische Melodie zahlreiche „extravagante“ Verzierungen auf, die wiederum bei all denen Verwirrung und Irritation auslösen könnten, die einen bereinigten Notentext moderner Ausgaben als der Weisheit letzten Schluss betrachten. Das abschließende Allegro assai, ein Sonatensatz, überrascht mit brillanten Läufen, noch mehr aber mit einem dritten Thema, das die erwartete Durchführung ersetzt. Im Kontrast zu dem virtuosen Satzbeginn verklingt der Satz ganz still und intim.
Andreas von Imhoff schreibt zur Gesamteinspielung der Mozart-Klaviersonaten durch Walter Gieseking (1953/54): „Sie leben in der musikalischen Stilgeschichte nach einer völligen Eigengesetzlichkeit, die als Hauptmerkmal den Überfluß an lebendiger Musik, an blühender Melodik und Phantasie trägt. Der Verzicht auf brillante Äußerlichkeit, ihr improvisatorischer Charakter und subjektive Ausdruckskraft machen ihre unnachahmliche Intimität aus, die den Geist der Humanität und reinen Poesie in sich birgt. Nicht Form, sondern ihre flexible Bewältigung, und der Fluß des Musizierens, die spontane Verarbeitung überreicher melodischer Einfälle und eine alles überwindende Lebensfreude des Genies Mozarts in der Zeit der Aufklärung finden in den Klaviersonaten ihren Niederschlag. Dies alles in einer Interpretation herauszuarbeiten, ist doppelt schwer! Vielleicht erklingen deshalb Mozarts Klaviersonaten so selten im Konzertsaal?“
Sind sie zu schwer, weil sie auf den ersten Blick leichter erscheinen? Zweifellos ist es eine Musik, bei der sich der Interpret weder in den Vordergrund stellen noch durch Äußerlichkeiten gewinnen kann.
Als nächstes ein großes Klavierwerk von Robert Schumann (1810 – 1856) : Carnaval op. 9.
Ich erlaube mir, auf meinen Artikel im Heft 2021 zurückzugreifen, als ich ein Konzert der ungarischen Pianistin Krisztina Fejes ankündigte. Sie begeisterte u. a. mit einer fulminanten Wiedergabe von Carnaval.
Der Untertitel der Einundzwanzig Charakterstücke op. 9 lautet: Scènes mignonnes composées pour le Pianoforte sur quatre notes (reizende Szenen, komponiert für das Pianoforte über vier Noten).
Sie entstanden 1834/35 und wurden 1837 bei Breitkopf&Härtel als Carnaval op. 9 herausgegeben.
Es handelt sich dabei um kurze Szenen, die alle auf den vier Tönen A-Es-C-H beruhen und die möglichst ohne Pausen gespielt werden sollen. Es ist ein pianistisch glänzender, virtuoser Zyklus, den Franz Liszt 1840 angeblich vom Blatt spielte, in sein Repertoire aufnahm, einem breiteren Publikum bekannt machte und dazu beitrug, dass der Zyklus bis heute eines der beliebtesten Werke Schumanns in unseren Konzertsälen geworden ist.
Dies ist umso bemerkenswerter, als Schumann sich selbst immer wieder skeptisch über das Werk äußerte, so zum Beispiel auf einer Konzertreise Claras Schumanns in Wien 1838: „Das Ganze hat durchaus keinen Kunstwerth, einzig scheinen mir die vielfachen verschiedenen Seelenzustände von Interesse.“ Und zu Franz Liszt sagte er: „ob überhaupt so rhapsodisches Karnevalsleben auf eine Menge Eindruck machen könne?“ Wie bei den Papillons war er der Meinung, dass zwar „manches darin den und jenen reizen“ könne, andererseits „doch auch die musikalischen Stimmungen zu rasch wechseln, als dass ein ganzes Publikum folgen könnte, das nicht alle Minuten aufgescheucht sein will.“
Das Werk entstand im Winter 1834/35 und ist mit seinen kurzen Stücken das dritte Aphorismen-Werk nach den Papillons op. 2 und den Intermezzi für das Pianoforte op. 4.
Als Friedrich Wieck Anfang 1834 seine 15jährige Tochter Clara zu ergänzenden Studien in Theorie und Gesang nach Dresden schickte, zog eine neue Klavierschülerin im Haus Wieck ein: es war die 19jährige Ernestine von Fricken aus Asch an der damaligen bayerisch-böhmischen Grenze. Bereits im August des gleichen Jahres verlobten sich Ernestine und Robert Schumann heimlich. Die ganze Beziehung lockerte sich aber bereits nach einem knappen Jahr wieder, als Clara im April 1815 zurückkehrte. Robert und Clara wurden sich ihrer tiefen Zuneigung bewusst, und bereits im November/Dezember des gleichen Jahres verlobten sich die beiden, ebenfalls heimlich, denn Wieck hatte seinem ehemaligen Schüler Robert Schumann bereits das Haus verboten.
Immerhin fand die Episode mit Ernestine von Fricken ihren Niederschlag im Carnaval und später auch noch einmal in den Symphonischen Etüden op. 13.
In Carnaval verband Schumann die kurzen Einzelstücke durch die in fast allen Stücken vorkommende Tonfolge ASCH/AesCH, die den Ort bezeichnet, aus dem Ernestine stammte und außerdem sind dies die in seinem Namen enthaltenen Töne: (e)SCHumAnn. Nur in dem Abschnitt, der Chopin gewidmet ist sowie in der Einleitung Préambule kommt diese Tonfolge nicht vor. Als Sphinxes erscheinen diese vier Töne auch als sogenannte ‘Pfundnoten’ im Zyklus.
Den Personen, die hier hinter Masken tanzen, begegnete Schumann in seinem damaligen Umfeld: Freunde aus dem Davidsbund, einer Vereinigung Gleichgesinnter, die sich von den Philistern abzugrenzen versuchten. Des weiteren fand er sie bei den Redaktionskollegen der soeben gegründeten Neue Zeitschrift für Musik: Seine Figuren stellen Davidsbündler dar: Florestan, Eusebius, Chiarina ( Clara Wieck), Estrella ( Ernestine von Fricken), Chopin, Paganini, Schubert, Beethoven, der im Marsch der Davidsbündler mit seinem fünften Klavierkonzert zu erkennen ist und der den Kontrapunkt setzt zum Großvatertanz der ewig Gestrigen, der Philister.
Quasi maestoso, mit großer Geste kündigt die ouvertürenhafte Einleitung Préambule ein Schauspiel an. Die schnellen Schlussabschnitte von Préambule bilden durch ihre Wiederkehr ganz am Ende den Rahmen des Zyklus.
„Vor dem Hintergrund verschiedener Tänze entstehen dialogartige Szenen: zärtliche Zwiegespräche (Aveu, Reconnaissance, Réplique), ein kleiner Streit (Pantalon et Colombine’) in aufgeregtem Buffogeplapper mit dazugehöriger Versöhnung (dolce); auch ein Monolog ist darunter (Eusebius), … Aber die zentrale Figur des Zyklus ist Florestan, dessen Porträt nicht zu Ende gezeichnet wird; mit dem Zerfall seines Motivs endet das Stück fragend auf einer Dissonanz, die auf ihre Auflösung wartet..“(*7, S.53). Noch andere Figuren tauchen auf: der Kapriolen schlagende Arlequin, die tanzende Coquette, Chopins Etüde Nr. 9 aus op. 10 wird zitiert und die Ähnlichkeit der Motive lässt vermuten, dass sich Florestan hinter verschiedenen Masken verbirgt. Am Schluss werden die Philister in einem überschwänglichen Schluss mit fortgerissen.
Nach der Pause ein Werk, das noch nie bei uns gespielt wurde: Die Corelli-Variationen op. 42, d-Moll, aus dem Jahr 1931 von Sergej Rachmaninow (1873 – 1943).
Diese zwanzig Variationen mit einem Intermezzo und einer Coda sind das letzte größere Werk, das der Komponist für Klavier solo geschrieben hat. Rachmaninow experimentierte hier oft mit ungewohnten Harmonien und Modulationen, die drei Jahre später dann in den Variationen über ein Thema von Paganini op. 42 für Klavier und Orchester noch ausgeprägteren Eingang fanden. Er befreite sich vom früheren Pathos und manches wirkt fast distanziert.
Bereits in den zwanziger Jahren hatte Rachmaninow dem geschätzten Wiener Geiger Fritz Kreisler mit hochvirtuosen Klavierbearbeitungen seiner Charakterpiècen Liebesleid und Liebesfreud ein Denkmal gesetzt.
Als die beiden Künstler 1928 in Amerika für Schallplattenaufnahmen mit Werken von Beethoven, Schubert und Grieg zusammentrafen, machte Kreisler Rachmaninow auf das Thema im letzten Satz der Sonata da camera (Violine e Violone o Cembalo) op. 5, Nr.12 von Arcangelo Corelli (1653 – 1713) aufmerksam.
Wir wissen nicht, wann und wo Rachmaninow mit der Komposition der Corelli-Variationen begann, aber den Aufzeichnungen der Freunde können wir zumindest entnehmen, dass er sie 1931 in seinem Schweizer Domizil, Senar, in Hertenstein am Vierwaldstädter See abschloß. Auf der Suche nach einer festen Heimat für seine zwei Töchter, nach einem Refugium der Stille und Besinnung, einigte die Familie sich Ende der zwanziger Jahre schließlich auf die Schweiz, wo Rachmaninow 1930 eine Villa im kubistischen Bauhaus-Stil errichten ließ. Er benannte das Anwesen Senar, nach Sergej, seiner Frau Natalja und dem Familiennamen Rachmaninow. Als sein Freund Swan ihn im Spätsommer 1931 dort, vor dem Aufbruch zur Konzertsaison in Amerika besuchte und nach seiner neuesten Komposition fragte, „setzte er sich ans Klavier, halb aus dem Manuskript spielend, halb aus dem Gedächtnis, mit einer wunderbaren Leichtigkeit, ging er von einer Variation zur anderen.“(*3, S. 177)
Wie wir heute wissen, stammte das Thema aber nicht von Corelli, sondern es kommt aus der iberischen Folklore. Die Folia (les Folies d’Espagne) ist dort einerseits ein lärmender Tanz, der im 15. Jahrhundert aufkam und sowohl auf volkstümlichen Festen wie auch im höfischen Theater Verwendung fand. Andererseits ist die Folia eine harmonisch-melodische Formel, eine zuerst aufsteigende, dann wieder absteigende melodische Linie, vom d‘ zum a‘ und zurück. Sie erfreute sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bei den Komponisten großer Beliebtheit und diente als Grundlage für Hunderte von Liedern und Instrumentalstücken. Bald war die Folia in ganz Europa bekannt. Vor allem in Italien, Frankreich und England war sie sehr beliebt. Ab 1670 spricht man von der späten Variante der Folia, wobei dies eigentlich nur kleine Details wie Auftakte etc. betrifft.
Zu den bedeutendsten Vertonungen der späten Folia sind diejenigen von Corelli zu zählen, der sie im Italienischen als La follia di Spagna bezeichnet, was so viel wie Die Verrücktheit aus Spanien bedeutet. Als Sonata Nr. 12 beschließen seine Variationen über die melodisch-harmonische Folia-Formel sein Opus 5. Er steigert dabei das schlichte und schöne Moll-Thema in den einzelnen Variationen zu einem virtuosen Höhepunkt und fügt jeweils beruhigende Takte ein, bevor er die nächste Variation eröffnet.
„… Die ersten Variationen bei Rachmaninow umranken das Thema nur, erfahren im weiteren Verlauf dann Veränderungen in den Klangfarben, der Harmonik und der Melodik, es nimmt neue Züge als Menuett und als von Glocken umhüllter Choral an. Im Zentrum stehen zwei ruhige Dur-Variationen; es folgen belebtere Scherzo-Episoden, aus denen alsbald ein vollgriffiges Finale erwächst. Den Schluß bildet eine bewußt antivirtuose Coda, in der das Thema ruhig und friedvoll nachhallt.“(*2, S.124)
Rachmaninow spielte die Corelli-Variationen mehrfach öffentlich, war aber – infolge übertriebener Selbstkritik – nie mit sich zufrieden. Auch den Plan einer Einspielung des Stücks gab er wieder auf.“(*2, S.134)
Rachmaninow war generell auch der Meinung, dass man zwei oder drei Variationen weglassen könnte. Aber was er in einem Brief an den Kollegen Nikolai Medtner schrieb, entspricht eher einer Verstümmelung seines Werks:
„Ich habe sie etwa fünfzehn Mal gespielt, aber von diesen fünfzehn Aufführungen war nur eine gut. Die anderen waren schludrig. Ich kann meine eigenen Kompositionen einfach nicht spielen. Und es ist so langweilig! Kein einziges Mal habe ich sie in der richtigen Reihenfolge gespielt. Ich wurde vom Husten des Publikums geleitet. Immer wenn das Husten anwuchs, hüpfte ich in die nächste Variation. Immer wenn nicht gehustet wurde, spielte ich sie in der richtigen Reihenfolge. In einem Konzert, ich weiß nicht mehr wo – es war eine kleine Stadt – war das Husten des Publikums so heftig, dass ich nur zehn von zwanzig Variationen spielte. Mein beste Wiedergabe war in New York, wo ich achtzehn spielte. Ich hoffe jedoch, dass Du sie alle spielen wirst, ohne Husten.“(*3, S.281)
In Washington schrieb Ruth Howell in den Daily News: „Das waren vielleicht zu viele Variationen. Das Stück wuchs in die Länge, war langweilig und das Thema wurde dick und undurchsichtiger, dass sogar Corelli es möglicherweise nicht mehr gefunden hätte. Wenn das Finale fünf Minuten früher gekommen wäre, wäre es perfekt gewesen. Als es zu Ende war, schaute sogar Rachmaninow etwas angewidert drein.“(*3, S.281)
Man muss allerdings sagen, dass Rachmaninows Gesichtsausdruck meist verdrießlich war. Gelöst fanden ihn die Zeitgenossen nur, wenn er mit Freunden aus der Heimat, mit Studienkollegen vom Moskauer Konservatorium zusammentraf. Hierzu zählte zum Beispiel der Sänger Fjodor Schaljapin,
Zeitlebens litt Rachmaninow, besonders in den Sommermonaten, unter der Heimatlosigkeit beziehungsweise unter dem wiederholten Verlust der Heimat.1881 musste die Gutsbesitzer-Familie Rachmaninow wegen des fehlenden Geschäftssinns und des verschwenderischen Lebensstils seines Vaters das letzte seiner Güter, Oneg bei Nowgorod, verkaufen und nach St. Petersburg ziehen. Rachmaninow verbrachte in Oneg seine frühe Kindheit und gab diesen Ort irrtümlicherweise auch immer als seinen Geburtsort an. Nach dem Zerwürfnis mit seinem Lehrer und Ersatzvater am Moskauer Konservatorium, Nikolaj S. Zverev, nahm ihn die Familie seiner Tante Varvara Satina 1889 auf und er fand dort auf dem idyllischen Landsitz Ivanovka eine neue Heimat. 1902 heiratete er eine der Töchter, Natalja A. Satina, und 1910 konnte Rachmaninow dank seiner Karriere als Komponist und gefeierter Pianist das Gut übernehmen. Dort entstanden die meisten der in Russland komponierten Werke. Durch die Revolution verlor Rachmaninow zum zweiten Mal seine Heimat, das Landgut Ivanovka und alle Ersparnisse. Im Dezember 1917 verließ er für immer Russland.
Aus Schweden hatte er ein Angebot für zehn Konzerte in Stockholm erhalten. Unter Vorlage dieser Einladung erhielt er ein Visum für die ganze Familie. Freunde besorgten eine Wohnung in Kopenhagen und so konnte Rachmaninow sich auf diese Konzerte vorbereiten. Inzwischen trafen auch Angebote aus Amerika ein: fünfundzwanzig Solorecitals und zusätzlich die Verpflichtung als Dirigent beim renommierten Bosten Symphony Orchestra. Innerhalb von dreißig Wochen hätte er insgesamt mehr als hundert Konzerte absolvieren müssen. Rachmaninow sagte auf Grund früherer Erfahrungen dort ab, dennoch fiel die Entscheidung für Amerika. Freunde finanzierten die Überfahrt und der legendäre Pianist Josef Hofmann empfahl Rachmaninow an seinen eigenen Impresario Charles Ellis, der für die noch laufende Saison sechsunddreißig Konzerte in fünfzehn Städten vereinbarte. Rachmaninow entschied sich frei und ganz bewusst für die Fortsetzung der Pianistenlaufbahn. Es gab viele Dirigenten, aber nur einen Pianisten Rachmaninow. Aber ihm war auch bewusst, dass er nicht als Interpret ausschließlich eigener Werke anhaltenden Erfolg haben würde. Mit fünfundvierzig Jahren erarbeitete er sich noch einmal ein neues Repertoire, übte täglich fünf Stunden und später drei bis vier. Er spielte die jeweiligen Passagen dabei oft so langsam, dass man das Stück nicht mehr erkannte. Er zwang sich, unter höchster innerer Anspannung und unter Aufführungsbedingungen zu üben.
Er wurde zu einem der begehrtesten und bestbezahlten Pianisten Amerikas und in der Wirtschaftsdepression von 1931 verlor er noch einmal einen Teil seines Vermögens. Aber er geriet nicht in Bedrängnis, vor allem weil er Ruhe bewahrte und aus den Ratschlägen der Anlageberater die richtigen auszuwählen verstand.
„Im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrzahl der Russen, die ihre Heimat wegen der Oktoberrevolution und der Bürgerkriegswirren verlassen hatten, gelang es Rachmaninow rasch und ohne nennenswerte Probleme, wirtschaftlich in der Emigration Fuß zu fassen. Den großbürgerlichen Lebensstil der belle epoque mit Dienstboten – Küchenpersonal, Chauffeur, Sekretär – konnte er dank seiner Erfolge in Amerika nicht nur wahren, sondern auf hohem Niveau kultivieren. Dabei blieb er selbst bescheiden, verhielt sich gegenüber seinen (fast ausschließlich russischen) Bediensteten einfach und niemals herablassend. Für sich selbst beanspruchte er wenig; auf die meisten Annehmlichkeiten des Alltags, auf die er für seine Familie Wert legte, hätte er selbst verzichten können. An Luxus gönnte er sich wenig: Anzüge vom besten englischen Schneider und – infolge seiner Autoliebe – die teuersten und besten Automobile vom jeweils neuesten Modell.“ So schrieb sein Freund Jurij Nikolskij in seinen Erinnerungen.
Aber die Sehnsucht nach der ‘alten Welt’, nach den Sommern in Russland und nach Konzerten in Europa begleitete Rachmaninow zeitlebens und veranlasste ihn, ab 1928 nach Möglichkeit die Konzertsaison in eine europäische und eine amerikanische aufzuteilen. Außerdem wollte er seinen Töchtern eine möglichst umfassende Bildung zuteil werden lassen. Paris war in den Zwischenkriegsjahren Zentrum der russischen Emigration. Aus aus diesem Grund lebte die Familie in diesen ‘europäischen’ Monaten in Clairefontaine, südlich von Paris.
Wie bereits erwähnt, glaubte Rachmaninow 1930 für sich und seine Familie in Hertenstein am Vierwaldstädter See ein Refugium für immer gefunden zu haben. Doch 1939 verbrachten die Rachmaninows den letzten Sommer in Senar, denn als Europa im Krieg versank, verloren die Rachmaninows auch diese Heimat. Zunächst wohnte das Ehepaar in New York und in Long Island. Ein letztes Heim fanden die Rachmaninows ab Sommer 1942 in Beverly Hills in Kalifornien, das er wegen des milderen Klimas der Ostküste vorzog. Lange konnte er auch dieses luxuriöse Haus nicht mehr genießen: Wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag im Jahr 1973 starb er dort an Lungenkrebs infolge eines lebenslangen exzessiven Nikotinabusus’.
Nachdem Rachmaninow Russland 1917 verlassen hatte, komponierte er nur noch sechs Werke, überarbeitete frühere Kompositionen und transkribierte Werke anderer Komponisten für den eigenen Konzertgebrauch.
Er sagte in einem Interview 1934: „Als ich Rußland verließ, hatte ich kein Verlangen mehr zu komponieren: der Verlust der Heimat verband sich mit dem Gefühl, selbst verloren zu sein. Der Vertriebene ist seiner musikalischen Wurzeln und Traditionen beraubt und deshalb ohne Neigung, seiner Persönlichkeit künstlerisch Ausdruck zu geben; was bleibt, ist nur der Trost sprachloser, unauslöschlicher Erinnerungen.“
1941 bekannte er: „In meinen Kompositionen habe ich keine bewussten Anstrengungen unternommen, originell, Romantiker, Nationalist oder sonst etwas zu sein[…] Ich bin ein russischer Komponist, und das Land meiner Geburt hat meinen Charakter und meine Anschauungen beeinflusst. Meine Musik ist das Resultat meines Charakters und insoweit russische Musik. Aber ich habe niemals versucht, russische Musik zu schreiben.“
Und auf die Frage, was er unter Musik verstehe, antwortete er seiner Biografin Sophia Satina:
„Was ist Musik?! Eine ruhige Mondnacht; Das Rauschen der Blätter; Entferntes Abendläuten; Das, was von Herz zu Herz geht; Die Liebe; Die Schwester der Musik ist die Poesie – ihre Mutter: die Schwermut!
Zum Abschluss des Konzerts spielt Frau Bibileishvili noch drei Kompositionen von Franz Liszt (1811 – 1886).
Als Liszt in den Jahren 1835/36 mit seiner Geliebten, Marie d’Agoult, von Genf aus in die Schweizer Berge reiste, entstanden neun Kompositionen, die unter dem Titel Tagebuch eines Wanderers zusammengefasst wurden. Liszt bekannte: „Ich hatte ein geheimes Sehnen, mich von einem dieser gewaltigen Eindrücke gefangen nehmen zu lassen, die Naturschönheiten auf mich machen.“
1836 gab Liszt das Tagebuch eines Wanderers teilweise und schließlich im Jahr 1842 vollständig heraus. Anfang der fünfziger Jahre plante Liszt, diese Werke in einer endgültigen Fassung unter dem Titel Années de Pèlerinage, Pilger(schafts)jahre, neu herauszugeben. Er wies seinen Verleger an, das Tagebuch eines Wanderers nicht mehr im Katalog aufzuführen und alle früheren Ausgaben einzuziehen. Die Umarbeitung begründete Liszt mit dem Wunsch: „Fehler zu verbessern und die durch die früheren Ausgaben gewonnenen Erfahrungen nützen zu wollen.“
Dreißig bis vierzig Jahre nach Beendigung der ersten beiden Hefte fasste Liszt eine weitere Sammlung von sieben Kompositionen aus den Jahren 1867 – 77 unter dem Titel Les Années de Pèlerinage – Troisième Année – en Italie zusammen. Fünf der sieben Stücke komponierte er erst 1877.
Sie hören in unserem Konzert zunächst aus dem ersten Band der Années de Pèlerinage (Première Année: Suisse) die Nummer 4 der insgesamt neun Kompositionen: Au bord d’une source. (Am Rand einer Quelle)
Liszt vereinfachte den Klaviersatz in dieser überarbeiteten Fassung von 1855 etwas, indem er einige kontrapunktische Nebenstimmen wegließ. Der harmonische und modulatorische Zauber des Werks aber blieb unangetastet.
Als nächstes spielt Frau Bibleishvili aus den Soirées de Vienne: Valse Caprice (après Franz Schubert) Nr. VI. Die Soirées entstanden 1852. Gewidmet sind sie Simon Löwy, einem Wiener Bankier, mit dem Liszt seit 1838 bekannt war.
Franz Schubert galt lebenslang Liszts uneingeschränkte, vorbehaltlose Bewunderung und Liebe. Er übertrug nicht nur so berühmte Lieder wie den Erlkönig oder einzelne aus der Winterreise, sondern ganz besonders schätzte er die Tänze, die Schubert für das Klavier geschrieben hatte. 1852 fasste Liszt diese zu einem Zyklus zusammen, den er Soirée de Vienne oder Valses caprices d’après Schubert nannte.
Wenn man Liszts Programme der letzten Jahre und insbesondere seiner letzten Konzerte überprüft, dann finden wir immer wieder die Nummer VI aus der Sammlung der Valses caprices d’aprés Schubert, ein Allegro con strepito in a-Moll (Anm.: strepitoso, lärmend, geräuschvoll, radauhaft).
Der bedeutende Pianist Ferrucio Busoni soll gesagt haben, „dass Liszt die Zuhörer normalerweise mit seinem Spiel überwältigt habe, mit den intimen Tänzen nach Schubert sei er aber direkt in die Herzen der Zuhörer vorgedrungen.“
Am Ende unseres Konzerts erklingt dann noch die Tarantella aus Venezia e Napoli, welches ein Supplement zum zweiten Band der Années de Pèlerinage ist. Die drei in dem Supplement zusammengefassten Werke sind:
1. Gondoliera, 2. Canzone und als Nummer 3 die Tarantella, die wir hören werden.
Sie entstanden schon 1838, wurden von Haslinger gestochen aber nicht veröffentlicht. Liszt überarbeitete sie 1861 noch einmal und verlieh ihnen dabei ihre besondere Eleganz. Erst im Takt 74 der Tarantella setzt das Thema ein, das sich noch mal in den Figuren einer Passagenepisode verliert, um schließlich als Canzona napolitana über rollenden Triolenbewegungen mit zahlreichen Kadenzen, Arpeggien in ein Prestissimo, giocoso assai mit höchst virtuoser Schlusswirkung zu münden.
Vom 6.-19. Juli 1886 hielt sich Liszt bei seinem Freund Mihaly Munkácsy in Luxemburg auf, wo er am 19. im dortigen Casino zum letzten Mal öffentlich auftrat: Auf dem Programm standen der Liebestraum, Chant polonais aus Glanes de Woronince und wiederum die Soirée de Vienne Nr. 6.
Am nächsten Tag fuhr er schon weiter nach Bayreuth, wo er am 21. Juli bereits in sehr reduziertem Allgemeinzustand eintraf. Dennoch hörte er am 23.7. noch Parsifal und am 25.7. den Tristan von Richard Wagner.
Ab 26. Juli blieb Liszt im Bett, der Arzt stellte eine Lungenentzündung fest. Am 30.7. lag er fast permanent im Fieberwahn und am 31.7. starb er kurz vor Mitternacht. Drei Tage später wurde er auf dem Bayreuther Friedhof bestattet. Im Trauergottesdienst am 4. Juli improvisierte Anton Bruckner über das Glaubensmotiv aus Parsifal. Es ist nicht nachvollziehbar, warum keine einzige Note von Franz Liszt bei dieser Totenfeier erklang.
Ich hoffe nun, dass Sie in den Artikeln des Hefts wieder etwas gefunden haben, was Sie noch nicht wussten und vielleicht Ihr Interesse an einzelnen Werken weckt und vermehrt.
Ich danke Ihnen wieder, wenn Sie mir bis zum Ende des Hefts gefolgt sind.
Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, dass sie wie immer die Bücherstapel tolerierte, mit denen ich wochenlang die verschiedenen Tische im Haus und vor allem auf der Terrasse belegte. Vor allem danke ich ihr fürs Korrekturlesen, für vertiefende Gespräche und diverse Anregungen, u. a. auch die, mich kürzer zu fassen.
Wir wünschen uns beide, dass wir nicht zu viele Fehler übersehen haben.
*1 W.A. Mozart in MGG, Personenteil Bd. 12, von Ulrich Konrad
*2 Andreas Wehrmeyer: Sergej Rachmaninow. rororo-Monographie, Hamburg 2000
*3 Sergei Rachmaninoff – A lifetime in Music. Sergei Bertensson and Jay Leyda, London, George Allan&Unwin LTD 1965